Zur Urteilsverkündung am 11. Juli im NSU-Prozess wird es den ganzen Tag bundesweit Aktionen und eine Demonstration in München geben. Aktuelles findet ihr beim Bündnis gegen Naziterror und Rassismus München. Für alle, für die das nicht möglich ist, organisiert die Kampagne #irgendwoindeutschland mit einem lokalen Bündnis eine Demonstration in Berlin und Aktionen in anderen Städten. Infos dazu gesammelt hier, der Aufruf unseres lokalen Bündnisses für Berlin:
5 YILDA NSU-DAVASI – BU MESELE BURADA KAPANMAZ! / 5 YEARS OF NSU-TRIAL – NO CLOSURE!
5 JAHRE NSU-PROZESS – KEIN SCHLUSSSTRICH!
Bundesweite Aktionen zur Urteilsverkündung im NSU-Prozess – Demonstration in Berlin am 11. Juli 2018, Treffpunkt: 17 Uhr Platz der Luftbrücke
Das Ende eines endlosen Prozesses
Im Juli 2018 geht der NSU-Prozess nach fünf Jahren zu Ende. Das NSU-Netzwerk war verantwortlich für neun rassistische Morde an Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık und Halit Yozgat, sowie für den Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter und dem versuchten Mord an ihrem Kollegen Martin Arnold. Bei den drei Sprengstoffanschlägen in Köln und Nürnberg wurden viele Menschen verletzt, nur durch Glück wurde niemand getötet. Auch die 15 Raub- und Banküberfälle führten zu zum Teil lebensgefährlichen Verletzungen.
Die Betroffenen des NSU-Terrors haben große Hoffnungen in den Prozess gesetzt. Sie wollen wissen, warum ihre Angehörigen sterben mussten und wer den NSU an den Tatorten unterstützte. Sie erwarten Aufklärung über die Verstrickungen von Verfassungschutz und Polizei in den NSU-Komplex. Sie wollen, dass der institutionelle Rassismus, der sie nach den Taten wie eine „Bombe nach der Bombe“ traf, anerkannt wird und Konsequenzen hat.
All das hat der Prozess in München nicht geleistet. Die betroffenen Nebenkläger*innen und ihre Anwält*innen haben immer wieder versucht, diese Aspekte in den Prozess hineinzutragen. Die Bundesanwaltschaft hält dagegen bis zum Ende an ihrer – widerlegten – These vom NSU als “isoliertem Trio” fest. Viele Fragen zu den Taten des NSU, zum Netzwerk und der Rolle der Behörden wurden im Münchner Prozess nahezu systematisch ausgeklammert und sind bis heute nicht aufgeklärt.
Das Problem heißt Rassismus
Rassismus ist eine tragende Säule des NSU-Komplexes. Der NSU entstand nicht im sozialen Vakuum. Er ist eine direkte Folge der rassistischen Pogrome und Anschläge der 1990er Jahre, die durch die Abschaffung des Asylrechts 1993 politisch belohnt wurden und für Nazis das Signal aussendeten: Mit Rassismus kommt man ungestraft davon. Bis heute werden rechte und rassistische Gewalt von der Mehrheitsgesellschaft und von Polizei und Justiz verharmlost. Noch schwieriger ist es, institutionellen Rassismus zu thematisieren – nicht nur im Fall NSU, sondern auch im Fall rassistischer Polizeikontrollen in Zügen, an Bahnhöfen und im öffentlichen Raum.
Dass das Problem Rassismus heißt, wissen diejenigen am besten, die davon betroffen sind. Das Umfeld aller neun Mordopfer bestand früh darauf, eine rassistische Tatmotivation in die Ermittlungen einzubeziehen. Dass ihr Wissen 11 Jahre nicht gehört wurde, ist auf Rassismus zurückzuführen. Wieso jagte eine „SOKO Bosporus“ den „Döner-Mörder“ und nicht eine „SOKO Zwickau“ die „Nazi-Killer“? Wieso folgten die Medien fast ausnahmslos den Theorien der Sicherheitsbehörden? Und wieso wurden die Demonstrationen der Familien Kubaşık und Yozgat 2006 in Kassel und Dortmund auch von den meisten organisierten Antirassisten*innen und Antifaschist*innen in Deutschland, trotz der Erfahrungen der Pogrome der 1990er Jahre, als nicht relevant für die eigene solidarische Praxis wahrgenommen? Antifaschistische Strukturen waren blind in der Wahrnehmung der Anliegen der Demonstrant*innen und haben die Dimensionen sowie Gefahr organisierter Nazi-Gruppen nicht ernst genommen.
Die Strukturen und Wahrnehmungsmuster der Polizei, Medien und auch der Linken konnten nahtlos an gesellschaftlich geteiltes rassistisches Wissen anknüpfen. Der offene völkische Rassismus der Nazis und der alltägliche institutionalisierte Rassismus von Sicherheitsbehörden, Medien und Mehrheitsgesellschaft bilden zusammen mit den staatlich aufgebauten und beschützten Neonazistrukturen den NSU-Komplex. NSU bedeutet – Rassismus, Staat und Nazis Hand in Hand.
An der Ignoranz gegenüber Rassismus und der Perspektive der Betroffenen hat sich auch nach fast 5 Jahren NSU-Prozess wenig geändert. Die gesellschaftlichen Voraussetzungen für den NSU sind bis heute nicht aus der Welt geschafft. Auf das vollmundige Versprechen der Aufklärung folgte die behördliche Vertuschung, die auch den zahlreichen Untersuchungsausschüssen eine wirkliche Aufklärung unmöglich macht. Auch wenn die Angeklagten in München zu Recht verurteilt werden, drohen den meisten Unterstützer*innen des NSU, wie auch den Verantwortlichen in den Behörden, immer noch keine Konsequenzen.
Eine angemessene Entschädigung der Betroffenen, die durch die rassistischen Ermittlungen zum Teil in den Ruin getrieben wurden, steht weiter aus. Während für Sachschäden nach dem G20-Gipfel in Hamburg kurzfristig und unbürokratisch ein Härtefallfonds eingerichtet wurde, müssen sich die Betroffenen des NSU-Terror ihr Recht auf Entschädigung mühsam vor Gericht erstreiten.
Deutsche Kontinuitäten
Die Gesellschaft und die Behörden Deutschlands folgen hier eingeübten Verhaltensweisen ihrer jüngeren Geschichte. Auch die Opfer des Naziregimes und ihre Angehörigen hatten die Hauptlast und -initiative zur Aufklärung der Verbrechen des deutschen Faschismus zu tragen. Die Mehrheitsgesellschaft, das Täter*innenkollektiv sehnte sich nach einem Schlussstrich, verdrängte die Schuld und lehnte die eigene Verantwortung für den millionenfachen Mord ab. Die Verantwortung wurde auf eine kleine, eingegrenzte und pathologisierte Täter*innengruppe abgeschoben – Hitler, die NSDAP, die SS.
Antisemitismus ist Teil des Problems
Zum ideologischen Fundament des NSU gehörte auch Antisemitismus. Im nationalsozialistischen Weltbild des NSU besteht ein enger Zusammenhang zwischen rassischem Antisemitismus, der sich gegen Jüdinnen* und Juden richtet und Rassismus, der auf Migrant*innen und POC zielt. Die Ideologie von der Überlegenheit der „weißen Rasse“ geht mit der Vorstellung einher, diese sei durch eine „übermächtige jüdische Weltverschwörung“ einerseits und durch Zuwanderung und Vermischung mit „minderwertigen Fremden“ andererseits bedroht. Dieser Logik folgen die „Turner Diaries“, die als eine Vorlage für die NSU-Mordserie gelten. Sie propagieren den Untergrundkampf gegen „das System“, der mit der Ermordung von Schwarzen, Jüdinnen und Juden und Politiker*innen beginnt und mit der Weltherrschaft der „weißen Rasse“ endet.
Antisemitismus äußerte sich auch in den konkreten Taten des NSU. 1996 hängte das NSU-Kerntrio eine Puppe mit der Aufschrift “Jude” und eine Bombenattrappe an einer Autobahnbrücke auf, um damit gegen den Besuch von Ignatz Bubis, dem damaligen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden, zu protestieren. Wenige Monate später beteiligte sich Beate Zschäpe an der Verschickung einer Morddrohung an Bubis. Auch das vom NSU-Kerntrio produzierte Spiel “Pogromly” sowie die in der Frühlingsstraße verteilte nationalsozialistische Propaganda verbreitet antisemitische Vernichtungsfantasien. Dieser Zusammenhang wurde bisher sowohl von der Öffentlichkeit als auch im NSU-Prozess weitestgehend verdrängt.
Spuren nach Berlin
Mehrere Spuren des NSU führen auch nach Berlin. Stephan Lange war Deutschland-Chef von „Blood & Honour“ und stand mit zentralen Figuren des NSU in engem Kontakt. Er wurde vom LKA Berlin als Spitzel „Nias“ an den Bundesverfassungsschutz weitergereicht. Thomas Starke wurde seit dem Jahr 2000 vom Berliner Landeskriminalamt als V-Mann in Sachsen geführt. Er hatte drei Jahre vor seiner Anwerbung für das NSU-Kerntrio Sprengstoff besorgt und später bei der Suche nach einem Versteck geholfen. Das LKA Berlin gab mindestens fünf Hinweise auf das NSU-Kerntrio nicht an die fahndenden Behörden weiter. Im Mai 2000 spähten Zschäpe, Mundlos und der „Blood & Honour“-Kader Jan Werner vermutlich die Synagoge in der Berliner Rykestraße aus. Im Jahr 2011 stellte sich der Berliner Polizei die Frage, ob drei Sprengstoffanschläge auf dem Jüdischen Friedhof Heerstraße in Charlottenburg dem NSU zuzurechnen seien. Dort waren 1998 am Grab von Heinz Galinski, dem früheren Präsidenten des Zentralrats der Juden, zweimal Rohrbomben explodiert und 2002 wurde ein Sprengsatz in den Eingangsbereich des Friedhofs geworfen. Alle diesbezüglichen Ermittlungen blieben bis heute ohne jeden Erfolg. In der Zwickauer Wohnung des NSU fand sich eine Adressliste mit 233 jüdischen Einrichtungen, auf der neben vielen Orten in Berlin auch der Jüdische Friedhof Heerstraße verzeichnet war.
Bis heute gibt es trotz der Forderungen antifaschistischer Initiativen und einer Petition der Berliner Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschist*innen (VVN-BdA) keinen parlamentarischen Untersuchungsausschuss zum NSU-Komplex in Berlin, wie er in zahlreichen anderen Bundesländern bereits existiert. Auch unter der rot-rot-grünen Regierung haben sich die Parlamentarier*innen seit einem Jahr nicht entschließen können, mit der Einsetzung eines Untersuchungsausschusses in Berlin ein klares Zeichen der Solidarität und des Aufklärungswillens an die Betroffenen zu senden.
Auch nach den Morden an Burak Bektaş im Jahr 2012 und Luke Holland im Jahr 2015 in Berlin Neukölln gingen weder das LKA Berlin noch das BKA von einem rassistischen Motiv aus – ohne dass es einen überzeugenden Ermittlungsansatz gab, der diese Haltung hätte begründen können. Bektaş‘ Angehörige können und wollen sich damit nicht abfinden. Sie vermuten, dass Burak Bektaş von einem Rassisten erschossen worden sein könnte. Im konsquenten Ausschließen oder Nicht-Benennen rassistischer Mordmotive zeigen sich Parallelen zum Verhalten der Ermittlungsbehörden im NSU-Komplex. Wirkliche Lehren aus dem NSU werden nicht gezogen. Das muss sich ändern!
Die Kontinuität des rechten Terrors und die Realität der Migration
Der NSU war nicht die erste Neonazi-Terrororganisation und auch nicht die letzte. Das zeigen Prozesse gegen rechte Organisationen wie die „Oldschool Society“ oder die „Gruppe Freital“. Daneben häufen sich die Meldungen von immer neuen Waffenfunden bei rechten Strukturen. Die Zahl der Brandanschläge und rassistischen Übergriffe ist in den letzten Jahren gravierend angestiegen. Die Grenzen zwischen Nazis, der Neuen Rechten und besorgten Pegida- oder Bärgida-Bürger*innen, die sich an Anschlägen auf Geflüchtetenunterkünfte beteiligen, sind zunehmend verschwommen und verwoben. Die politischen Entscheidungsträger*innen reagieren mit dem massiven Abbau des Asylrecht, die Ausländerbehörde und das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge setzen auf Abschreckung.
Trotzdem hat der NSU sein Ziel, die Vertreibung von Migrant*innen aus Deutschland, nicht erreicht. Die Angehörigen der Mord- und Anschlagsopfer haben das Land nicht verlassen. Sie haben sich untereinander bundesweit mit anderen Betroffenen rassistischer Morde und mit Unterstützer*innen vernetzt. Sie klagen den Rassismus an und eine Welt ohne Rassismus ein. Auch die Keupstraße hat sich wieder aufgebaut. Hier wurde wie in unzähligen anderen Orten der BRD eine neue, postmigrantische Gesellschaft errichtet, die für uns heute als selbstverständlich gilt. Die über 50-jährige Einwanderung nach Deutschland hatte zivilisatorische Effekte auf dieses postnazistische Land, die weder wegzudemonstrieren noch wegzubomben sind. Stattdessen müssen selbstorganisierter migrantischer Widerstand sowie rassistische wie antisemitische Gesellschaftsstrukturen sichtbar gemacht werden!
Das Ende ist erst der Anfang
Das Ende des NSU-Prozesses ist nicht das Ende der Auseinandersetzung mit dem NSU und der Gesellschaft, die ihn möglich machte. Unabhängig vom Münchner Urteil bleiben mehr Fragen als Antworten. Deshalb mobilisiert das bundesweite „Bündnis gegen Naziterror und Rassismus“ unter dem Motto „Kein Schlussstrich“ zum Tag X, dem Tag der Urteilsverkündigung, nach München. Wir rufen euch auf, am Tag der Urteilsverkündung nach München zu fahren! Wer allerdings nicht nach München fahren kann, kann sich anderen Aktionen, wie unserer Demonstration in Berlin anschließen. Wir möchten unsere Solidarität mit den Angehörigen der Ermordeten, den Opfern der Anschläge und allen Menschen ausdrücken, die von rechtem Terror und behördlichem Rassismus bedroht und betroffen sind. Wir möchten zeigen, dass der NSU-Komplex für uns nicht abgeschlossen ist.
Kein Schlussstrich! – NSU-Komplex aufklären und auflösen!
Rassistischem Terror gegen Geflüchtete und Migrant*innen entgegentreten – Rassismus in Behörden und Gesellschaft bekämpfen!
Aufklärung der rassistischen Morde des NSU durch eine internationale Untersuchungs-kommission und unter Einbeziehung der Angehörigen!
Verfassungsschutz auflösen – V-Leute abschaffen!
Einrichtung eines parlamentarischen NSU-Untersuchungsausschusses für Berlin!
Fahrt am 11.07. nach München. Kommt zur Demo in Berlin. Treffpunkt: 17 Uhr Platz der Luftbrücke. Ein entschlossenes Zeichen setzen!
Informationen zur Demonstration und Aktionen am Tag X findet ihr für
München: nsuprozess.net
Berlin & anderswo: irgendwoindeutschland.org/nsu